FRÜHRENTE.

/Gedankenspiel./ Ich habe darüber nachgedacht, lieber P.. Wir arbeiten doch, um GELD zu verdienen. Wofür verdienen wir Geld? Weil wir ja von irgendetwas leben müssen. Wofür leben wir? Damit wir arbeiten können. Schließlich verbringen wir damit die meiste Zeit unseres Lebens. Den Rest unserer Lebenszeit nennen wir „Freizeit“. Das ist die Zeitspanne, die wir dafür benötigen, um wieder ausgeschlafen, fit und gut angezogen für die Arbeit zu sein. Sport, Wellness, Shopping. Das ganze Programm… Und weil das entsprechend kostet, brauchen wir wieder Geld. Und wie verdienen wir Geld? Richtig. Indem wir arbeiten…

Die verhängnisvolle Logik dieses Kreislaufes ist so bestechend, dass man sich gar nicht vorstellen kann, jemals eine Chance zu bekommen, daraus auszubrechen. Einziger Lichtblick? Die Frührente. Endlich das tun, was einem Freude macht… Die Frage, warum man denn nicht gleich tut, was einem Freude macht und damit lieber bis zur Frührente wartet, wird mit der ebenso einfachen wie bestechenden Antwort abgetan, von irgendetwas müsse man auch noch leben. Und schon arbeitet man nicht mehr, um zu leben, sondern um in Frührente zu gehen…

Was mich an diesem Modell so erschüttert ist sein selbst gestrickter Charakter. Und die Leichtgläubigkeit seiner Anhänger. Denn schließlich muss der Freiraum der Frührente auch erwirtschaftet werden. Und wenn ich mir das einmal bildhaft vorstelle, dann sehe ich irgendwo Berge von Geld, die nur darauf warten, eines Tages von einem Heer von Frührentnern abgeholt zu werden. Da hilft die Vorstellung, dass dieses viele Geld in der Zwischenzeit auch nicht untätig herum sitzt, sondern „arbeitet“, auch nicht weiter. Denn für die Arbeit des Geldes gilt ja die gleiche Frage, wie für die eigene Arbeit: macht sie „Sinn“? Macht sie „Freude“? Macht sie „lebendig“?

Ich würde sagen, nein. Auch unser Geld arbeitet nur, um Geld zu verdienen. Das ist ein UM-ZU-JOB. Und so kann es nicht weiter gehen. Vor allem in Verbindung mit der nicht ganz unrealistischen Vorstellung, dass dieses Geld mit den Jahren eher weniger wird als mehr… Warum also das Geld nicht jetzt hier und heute dafür verwenden, etwas zu tun, das anderen oder einem selbst Freude macht? Etwas, worin man eine ganz eigene und besondere Expertise entwickelt? Weil man es kaum erwarten kann, sich gleich nach dem Aufstehen an die Arbeit zu machen? Etwas, worüber man plötzlich ganz neue und andere Menschen kennen lernt… Weil man sich mit ihnen austauscht über das, was man tut… weil sie einem vielleicht die nötigen Materialien, Rohstoffe, Kontakte oder Ideen dafür liefern… Etwas, worin man plötzlich auch ganz „gefragt“ ist… Und wofür man womöglich neben Resonanz, Kontakt, Austausch, Anerkennung, Bestätigung und der Möglichkeit zu persönlichem Wachstum auch noch Geld bekommt? Etwas, das man gar nicht mehr aufhören möchte, zu tun… Was man am liebsten bis an sein Lebensende tun möchte? Weil man es selbst dann täte, wenn man dafür nicht bezahlt würde… Warum machen wir das nicht? Und warum werden wir darin nicht staatlich gefördert? Und warum fördert der Staat mit seiner fadenscheinigen Rentengarantie eher die „Arbeiten-um-Geld-zu-verdienen-Hölle“ als die Freiheit, für sich und sein Leben Verantwortung zu übernehmen und zu arbeiten, weil es „Sinn“ macht? „Freude“? Und weil es dem „Leben“ dient? Verstehst Du, was ich meine? Das ist nicht unverantwortlich. Das ist im höchsten Maße verantwortlich. Nämlich selbstverantwortlich!

Das Modell „Arbeiten-um-Geld-zu-verdienen“ ist der Auswuchs einer gesellschaftlichen Entwicklung, die ich für völlig veraltet und im höchsten Maße für gefährlich halte. Weil sie für alle daran Beteiligten ein Verlustgeschäft ist. Für den Geldverdiener, für den Geldgeber und für den Staat. Und sogar für die noch viel größere Gemeinschaft aller Staaten und Länder. Denn damit wird Arbeit zur „Ware“. Also etwas, das man nur macht, weil man dafür das bekommt, was man in unserer Gesellschaft zum Überleben braucht:

GELD.

Und das reicht bei weitem nicht für ein Leben. Weder für das eigene, noch für das der Anderen, mit denen man tagtäglich zu tun hat oder auch sein Leben „teilt“.

So sehe ich das.

Deine
K.

P.S.: Das Zitat auf dem Foto zu diesem Artikel verdanke ich einem Kunstprojekt von Thomas Thiede und Eamon O’Kane.